„ Kunst gibt nicht das Sichtbare wieder, sondern macht sichtbar“ P. Klee


Ikonische Differenz II

Wir sehen dann plötzlich, paradox formuliert, etwas Sichtbar-Unsichtbares. In dieser Erfahrung liegen neue Erkenntnischancen. Um sie produktiv zu machen, bedarf es eines Blicks, der nicht mehr distanziert und kameragleich an der breiten Front des gegenständlich Sichtbaren stehen bleibt - einem Modell optischer Orientierung von scheinbar universeller Gültigkeit -, der nicht allein, gewissermaßen in blindem Anschauungsgehorsam, dem sinnlichen Auge verhaftet bleibt. Die Wahrscheinlichkeit ist sonst groß, dass wenig oder nichts gesehen wird und das dieses, was Kunstwerke in anschaulicher Komplexion immer schon unübersehbar zu sehen geben, dennoch übersehen wird.

Viele Texte zur Ästhetik bestehen aus klangvollen Zitaten, Klee, Benjamin, Böhm, Gehlen, machtvoll wird der Name des Autors autoritativ gehaltvoll zelebriert. Müller nutzt in seinem Werk „ikonische Differenz“, welches hier zur Einführung verwendet wird in das künstlerische Denken, den Ausspruch von Paul Klee, welcher im 20. Jahrhundert zu einem Topos des Denkens über Kunst mutierte, nur indirekt in seinem Text über ikonische Differenz, durch die Wendung des „etwas Sichtbar-Unsichtbares“. Klee als Künstler der klassischen Moderne prägte den bekannten Ausspruch. Die rhetorische Figur das Unsichtbares und Sichtbares ineinander Oszillieren verleiht der Kunst den Status des Geheimnisvollen. Müller nutzt dieses Zitat, um im Anschluss an Gottfried Böhm, dessen „ikonische Differenz“ allgemein zu charakterisieren. Die Konzepte, welche in der klassischen Moderne entwickelt worden sind, wirken das gesamte 20. Jahrhundert hindurch. Kunsthistoriker in der heutigen Zeit bedienen sich oft der theoretischen Konzepte welche Künstler wie Klee, Itten oder Schlemmer entwickelt haben. Paul Klee entwickelte am Bauhaus das bildnerische Denken eine bekannte Beschreibung in diesem Werk, wie beispielsweise die Schöpferische Konfession beschreibt das anschaulich wie grafische Strukturen immersiv im Bilde-Prozess selbst erfahren werden können. Das sehende Sehen wie es Max Imdahl beschrieb korrespondiert mit diesem beobachten des Wahrnehmungsprozesses.

Über die Widersprüchlichkeit der Ikonischen Differenz nachzudenken erzeugt die Möglichkeit  künstlerisches Denken zu praktizieren. Die Paradoxie etwas zu sehen, was man nicht sehen kann. Das Übersinnliche im Sinnlichen wahrzunehmen, scheint unmöglich zu sein. Das Kunstwerk nicht als Faktum äußerlich zu begreifen und Ikonographisch zu deuten, sondern die unsichtbare begrifflich nicht in der Sprache fixierte Wirklichkeit der Kunsterfahrung zu spiegeln, ist besonders für die moderne Kunst eine große Herausforderung. Wir sehen etwas, was wir nicht sehen können. Waldenfels prägte den Begriff der Widerfahrnis, andere Autoren nutzten das Wort der Unverfügbarkeit, der Soziologe Hartmut Rosa thematisiert das Phänomen der Resonanz. Resonanz impliziert das leibliche Spüren ein Zusammenspiel von unterschiedlichen Sinnen.

Was so schnell übersehen werden kann, dem möchte der Text nachgehen.

Modus konkreter Anschauung verläßt er vorübergehend die abstrakten Provinzen der Wissenschaften, Hochburgen des Begriffs, um in jene Gebiete des 'Optisch-Unbewußten' (W.Benjamin) vorzustoßen, in denen Kunstwerke zu Hause sind. Wer also etwas sehen will, der bedarf, sowohl gegen den Zwang des unmittelbaren Verstehens als auch gegen den Zwang des wissenschaftlichen Klassifizierens, des 'beharrlichen Auges' (Th.W. Adorno). Seinem intensiven Blick, seiner 'Sinnesenergie' (G.Boehm) und 'inneroptischen Intelligenz' (A.Gehlen) vor allem gelingt es, sich in den sichtbaren Organismus des Kunstwerks einzusehen, die Mannigfaltigkeit der sinnlichen Entsprechungen und Konstellationen nach und nach zu erkennen, um sie dann - quasi auf einmal - erhellend in eins zu sehen. Auf diesem Höhepunkt anschaulicher Komplexität, dem Spannungsmaximum und Augenblick der größten Nähe von Auge (Blick) und Bild, im Konvergenzpunkt beider, lichtet sich plötzlich, fast wie von selbst, das Werk im Betrachter. Was sich da lichtet, in unerwarteter Wendung und alles Faktische überbietend, ist dessen Sinn. Ihn zu sehen und zu verstehen bleibt eine Anstrengung im eigensten Interesse.


Ikonische Differenz

Bildbetrachtung Cézanne

Sinnessymbiontik

Als Sammelplatz visuell höchst wirksamer und widersprüchlicher ikonischer Kontraste, ist die ikonische Differenz der Ort, in dem sich alle Kontraste in den einen Grundkontrast der ikonischen Differenz versammeln. Da dieser Versammlungsort keine geometrischen Koordinaten kennt, muß paradox formuliert werden: Die ikonische Differenz ist ortlos im Werk. Das gleiche gilt, was auch zu zeigen sein wird, hinsichtlich der zeitlichen Form ihrer Existenz. Als Treffpunkt der unterschiedlichsten ikonischen Kontraste entfaltet sie ihre produktive Spannung und visuelle Potenz, so bald wir das jeweilige Werk primär als komplexe Beziehungsform , insgesamt als ein Kontrastphänomen betrachten und nicht nur als Objekt, als illustrativen Abklatsch oder als mimetische Dienstleistung an der Realität. Ein solches Verständnis von mimetischer Dienstleistung bildlicher Darstellung bedarf - vor allem angesichts der Kunst der Moderne - einer grundsätzlichen Korrektur. Nach wie vor charakteristisch für das gängige Kunstverständnis ist, das zumeist museal fixierte Kunstwerk als einen historischen (dokumentarischen) Gegenstand zu bestimmen, der ikonographische, aber auch soziale, technische, politische oder kulturgeschichtliche Sachverhalte illustriert bzw. kritisiert. Das Kunstwerk, das dann 'nichts anderes zu sein scheint als ein verkappter Spiegel dieser oder jener Realität' , dieser Gesellschaft oder jenes Kulturkreises, wird unter solcher Perspektive fast ausschließlich zum faktischen Gebilde, dessen Darstellungsprozeß mit seinem künstlerischen Herstellungsprozeß endet. Daß dem nicht so ist, daß Kunstwerke keine Doppelgänger, keine bloßen Spiegel sind, darüber hinaus keine Mittel- Zweck-Beziehung intendieren oder veranschaulichen, sondern als selbständige 'Systeme' der Sinndarstellung Sinnprozesse entfalten Zur Verhältnisbestimmung von (literarischem) Kunstwerk und Differenz vgl. die aufschlußreichen Bemerkungen von G.Deleuze in: Proust und die Zeichen, S.36ff. Vgl. G.Boehm, Bild und Zeit, S.9.

Vgl. G.Boehm, Was heißt: Interpretation?, S.14 sowie ureigenste Explikationsmöglichkeiten von Erkenntnis eröffnen, daß sie keine Endprodukte sind, hinter denen das Sehen nur im Dunkeln tappt, sondern ihr Dasein höchst anschaulich und prozeßhaft verkörpern, dafür stehen viele Werke der Moderne, nicht zuletzt die von James Turrell oder Joseph Albers.


Einleitung Müller ikonische Differenz

Vorläufig und knapp umrissen ist damit die Form einer Kunsterfahrung, die sich zum einen aus einer Vielzahl ikonischer Kontraste, zum anderen aus der Interaktion zwischen kontrastreicher Werkstruktur und aktiver Wahrnehmung, dem anschaulichen Wechselspiel zwischen Werk und Betrachter herleitet. Die Wahrnehmung der ikonischen Differenz öffnet dabei dem Betrachter den Blick 1 auf grundsätzliche Qualitäten und Möglichkeiten des Kunstwerkes. Durch sie wird er von etwas angezogen, das sich in seiner ikonischen Fülle zugleich zeigt und entzieht, darüber hinaus selbständig und unabhängig ist gegenüber jedem fixierenden Sehen und deshalb nur prozeßhaft da ist. Es kann nicht früh genug betont werden, daß diese - und noch folgende - widersprüchliche Beschreibungen der ikonischen Differenz, die paradoxe Struktur ihrer anschaulichen Spannung (z.B. das Paradox der 'flachen Tiefe'), weder einer subjektiven Willkür entspringt, noch der Unwissenschaftlichkeit das Wort redet. Das Gegenteil ist vielmehr der Fall. Die Beschreibung ihrer paradoxen Züge und Zirkel dient dazu, näher an den anschaulichen Sachverhalt dieser Differenz heranzukommen. Ist doch das, was hier mit dem Begriff der ikonischen Differenz bezeichnet wird und was wir manchmal als fragiles oder stabiles, immer aber als komplexes 'Schau-Spiel' und Wechselspiel zwischen den ikonischen Kontrasten im Kunstwerk wahrnehmen, nicht so da bzw. sichtbar wie eine Linie, eine bestimmte lokale Form oder ein Ensemble von Farbflecken. Die ikonische Differenz ist nichts von all dem. Sie ist kein isoliertes oder isolierbares Binnenelement, kein bildinternes Faktum bzw. Datum, das gegenständlich angeschaut und darüber hinaus ikonographisch beschrieben werden kann. Sie ist auch nicht die visuelle Repräsentation, das optische Äquivalent eines Begriffs. Und doch - obwohl sie all dies nicht ist - gehört sie ganz und gar  Vgl. G.Boehm, Bild und Zeit, S.9f.  zum Kunstwerk, so daß sie niemals außerhalb der sie zeigenden Werke existiert. Ihr 'Dasein' im Kunstwerk ist kein partielles, betrifft dieses vielmehr als Ganzes. Zu diesem Ganzen gehört der Betrachter, der als aktive Größe das bildliche Bedeutungsangebot der Werke visuell realisiert.


„Daher dürfte die größte Provokation gegenüber einer solchen (wenn überhaupt möglichen) Theorie darin liegen, daß sich Erfahrung und Erkenntnis der ikonischen Differenz nicht generalisieren lassen, nicht reduzieren lassen auf ihren Begriff, daß sich darüber hinaus das anschauliche Erkennen der ikonischen Differenz zu keinem Zeitpunkt ablösen läßt vom visuellen Realisierungsgrad des jeweiligen Werkes. Ihr Begriff besitzt nicht jene 'semantische Festigkeit', die man von ihm erwartet und die man ihm vielleicht wünscht (und die er als Begriff in gewisser Weise vortäuscht). Zugespitzt formuliert heißt das: Die Erkenntnis der ikonischen Differenz wird primär nicht durch den Begriff vermittelt, sondern durch die Sinne.“