Künstlerische Forschung I

Ziemer / Deleuze / Waldenfels

In der “Wahrnehmung der Kunst und die Kunst der Wahrnehmung” umschreibt Arnheim umfassend die Perspektiven eines produktiven Erkenntnisprozesses zwischen Wissenschaft und Kunst.  Eine Phänomenologie der Imagination sucht die Ursprünge der Theoria in der Kontemplation, in der Schau, verstanden nach Aristoteles als „Energia“ als Aktivität. Die kontemplative Betrachtung von Schaffensprozessen sowohl in der Rezeption als auch in der Produktion erzeugt, sofern eine Annäherung versucht wird, keine Spaltung zwischen künstlerischer Tätigkeit und dem Erkennen, das prozessuale Ereignis im Denken wird als produktiv schöpferischer Bewegungsvorgang gedacht, ähnlich der Charakterisierung des Denkens durch Beuys als einem plastischen Vorgang.
Als ein weiteres aktuelles Beispiel für eine Annäherung an ein künstlerisches Erkennen führe ich exemplarisch die Studie von Geza Ziemer. Sie versucht in ihrem Topos „Page as Stage“ Gilles Deleuze als Kronzeugen zu rehabilitieren. Sein Denken wird charakterisiert als der Versuch von Kunst aus produktiv philosophisch- schöpferischen Gedanken zu entwickeln.
Ziemer baut ihren theoretischen Hintergrund für das Thema Körper, Künstler mit Behinderung, unter der Perspektive der Verletzbarkeit in der Auseinandersetzung mit dem Werk von Blumenberg und Deleuze auf. Einige Grundzüge ihrer Beschreibung, die sie aus dem Werk von Deleuze entnimmt, seien hier umrissen. Grundsätzlich geht es in diesen drei Prozessen bei Deleuze, um eine Art der experimentellen ästhetischen Reflexion, des Denkens nicht über Kunst, sondern ein produktives Denken mit der Kunst. Ein darstellendes Denken in vielfältigen Formen. Es ist eine Form der Theoriegenerierung die rückbezüglich die Bedingungen von Erkenntnisproduktion aufwirft. So entstehen für Ziemer verletzbare und brüchige Formate der Reflexion. Diese werden auf dem Hintergrund einer eingreifenden Relevanz diskutiert. Theorie entsteht so produktiv aus Bildern und bildet dabei schöpferisch neue Denklinien.
Grundsätzlich ist dabei eine Begriffsbestimmung, die nicht definiert, feste statische Begriffe umreißt, sondern die den Worten situativ schöpferisch und beweglich neue Bedeutungen zuweist. An der Verwendung, der von Deleuze neu bestimmten Begriffe Perzept, Affekt und wie sie mit der Begriffsbildung zusammenhängen, kann dies verdeutlicht werden, denn beiden Begriffen wird durch die Substantivierung eine eigenständige Dynamik hinzugefügt, die über das landläufige Verständnis von Wahrnehmung und Empfindung hinausreicht.
Es geht in dem Umgang mit Affekt und Perzept eher um eine innere Erfahrung, die aus einem schockartigen Erlebnis entsteht, dass das gewohnte Gefüge destabilisiert und erschüttert. Begriff und Empfindung stehen dabei in einer prozessual gedachten Interferenz, die so in die Lage versetzt wird sich dem Unsagbaren dennoch durch Sprache anzunähern. Es entstehen Störfelder oder Bewegungsimpulse. Der Affekt hat dann laut Deleuze den Menschen und nicht der Mensch den Affekt.
Waldenfels charakterisiert seine Darstellungen zum pathischen Erleben in der Kunstanschauung ähnlich. (Waldenfels 2010 S.117-147)
Das Perzept hingegen wirkt als eine nicht einzuordnende Kategorie, dadurch das es keine Möglichkeit der Einordnung gibt, entsteht eine Destabilisierung der Identität, eine treibende Kraft für fremde Formen der Sprache und Erkenntnis. Es ermöglicht so unvorhergesehene Entwicklungsmöglichkeiten und Veränderungen. Dieser Vorgang wird von Deleuze wiederum, nicht in einem konventionellen Sinn, mit Gewalt in Zusammenhang gebracht, die Gewalt der Darstellung, die Darstellung der Gewalt. Diese Umkehrung aller Werte in Form von Begriffsarbeit erzeugt die Unruhe einer schöpferischen Bewegung, die eine künstlerische Begriffsschöpfung parallel zum Werk ermöglicht. Das Werk, welches zur Auseinandersetzung steht, wird in diesem Vorgang prinzipiell dekonstruiert, es wird als unveränderbares Monument in Frage gestellt, um ein neues Werk zu schaffen. Text wird verstanden als creatio continua. Page as stage ist so die schöpferische Neufassung und Fortentwicklung einer produktiven Erkenntnis.
In dieser Methode spielen die drei Verfahren der Deformation, Variation und Subtraktion eine Rolle, die von Deleuze gleichsam exemplarisch an der Lektüre des Theaters von Carmelo Bene entwickelt worden sind.
Die Subtraktion kürzt durch weglassen und Besinnung auf die Essenz das ursprüngliche Werk.
Die Variation schafft als ein der Musik genuiner Begriff eine Metamorphose, die allerdings nicht nur als eine Umwandlung von einem zum anderen Zustand fungiert, sondern im Akt der Umwandlung einen Zwischenraum entdeckt, der in der Differenz nicht dialektisch harmonisiert wird, sondern als produktiver Widerstand fruchtbar gemacht wird. Echo und Resonanz geben als musikalische Begriffe Anknüpfungspunkte an solch einen kreativen Umgang mit Begriffen. Die Dialektik soll dabei überwunden werden. Es entsteht vielmehr eine multiperspektivistische Komposition, die eine Formveränderung impliziert. Die Überlagerung von Text, Bild oder Filmlektüre ergibt die Grundlage des dynamischen Vorganges in der Variation zur Metamorphose. Die Deformation wird dann unter anderem als im Kontext der Erotik thematisiert. Die Wiederholung eines Motivs wird nicht stur wiederholt, sondern umgebildet und zu einem neuen Leben gebracht.

Der Leib des Begriffs oder auch der Textcorpus als Leib sind Intermediale Verknüpfungen.
Die Leiblichkeit eines Begriffs wird konturiert oder der Horizont des Begriffs wird erweitert zur Unendlichkeit hin geöffnet. Die Transzendenz der Begriffe beginnt. Auch die Transparenz eines Begriffes entsteht nur durch die Bearbeitung und durch Gestaltung. Begriffe werden mikroskopisch beleuchtet, um aus der Vertiefung und Wendung des „Begriffsleibes“ neue Perspektiven zu erschaffen.
Das Begriffe einen Leib haben, ist meine Lesart der Lektüre. Der Leib eines Begriffs sowie ein ganzer Textcorpus ist ein Organismus.
(Die Beobachtung des Incarnierens und Excarnierens eines Begriffswesens ist die Grundlage für die Beobachtung des Denkens, wie sie auch Steiner als Ausnahmezustand angeregt hat, insofern ist die Lektüre von Deleuze in gewisser Weise für mich wie das Betreten eines bekannten Terrains.)
Responsivität sowie Alterität weisen auf den Umsturz, die Umwendung, welche ästhetische Erfahrungen ermöglichen. Spuren, die flüchtige und zarte sowie gewaltsame Umbrüche ermöglichen. Responsivität im Sinne des Widerfahrens, als ein vom Fremden her sich gebendes, welches vom Anderen her antwortet. Für die ästhetische Erfahrung bedeutet das eine Umkehrung des Aktes der Wahrnehmung. Nicht ich nehme aus einer am Subjekt orientierten Weise wahr, sondern ich werde durch die Dinge angeschaut. Die Berührung geschieht, ereignet sich als Widerfahrnis. Von hier aus entsteht eine Sprache, die sich nicht nur um eine beschreibende Diskursivität bemüht. Levinas prägte den Begriff der Alteritaet. Waldenfels thematisiert in: "Sinne und Künste im Wechselspiel" (S. 70-74), Uraffektationen mit denen unser Weltbezug grundsätzlich durchsetzt ist, im Anschluss an Husserls Intentionaltäts-Begriff werden "ichfremde Affektationen" beschrieben. Der Vorgang ästhetischen Erfahrens wird als destabilisierter Blick zwischen Pathos und Response als ein "Etwas", gefasst, das uns angeht, welches dem Bedeuten und Begehren vorauseilt als ein leibliches Spüren von Empfindnissen. Diese Qualia lassen sich nur umschreiben, aber nicht beschreiben. Dieses Zustoßen wird als Pathos im Sinne eines Widerfahrnis thematisiert.(Widerfahrnis, siehe "Sinne und Künste im Wechselspiel" S.323-327)
Bedenkenswert, fast schon in paradoxer Weise wirkt eine tiefe Sinnebene bisweilen als Abglanz einer Idee intuitiv in den ersten Augenblick der Begegnung mit einem Werk direkt inspirierend in die Form der Ausstrahlung des Kunstwerkes, vielleicht als eine Art der seelisch- geistigen Energie, die sich unmittelbar in physisch Materiellen niederschlägt und einen Schwingungszustand gestaltet, der im Betrachter jenen selbstvergessen Zustand, die Ur- Erinnerung an eine innere Stimmigkeit, eine präreflexive Evidenz auszulösen vermag.
Jenen kosmischen Glanz, jenes Segensvolle der erstrahlende Planeten im Innenraum der Seele, jene Gewissheit des Schönen, Guten und Wahren, welches der Seele Kraft schenkt ihr Gefallensein zu verwandeln, zu ertragen,  zu meistern. Jener erste Augenblick der Begegnung vermag zu erschüttern. Der Kairos, der Zeitmoment der die Ewigkeit berührt,  der für einen Moment einen Flügelschlag der Freiheit verleiht.
Erst aus diesem  Erlebnis entsteht der Wille des Kunstwerk auch dauerhaft zu genießen, zu bewegen und zu ergründen.
Der Spiegel des Werks  gewährt dem Betrachter nur gerade so viel als das er in seinen jetzigen Entwicklungszustand in der Lage ist zu empfangen.
Im ästhetischen Betrachten ist eine Vermählung der Erkenntnistätigkeit und der visuellen Intelligenz möglich, das „Denken durch das Auge“ ermöglicht der Ratio andere Wege. Das Bildnerische Denken von Paul Klee oder der Generalbaß, welchen Kandinsky als Vertreter der Klassischen Moderne forderten, weisen in eine ähnliche Richtung.

Ein Anschauen der Ideen differenziert sich in den Medien der Kunst als eine andere Erfahrungsweise. Der Stoff tritt in eine Verbindung zu einem Ideellen. Materie und Geist sind ineinander verwoben, das Materielle erscheint als wäre es eine Idee. Künstlerisches Anschauen vertieft die Formen des Wissens. 

Bildhafte Formen der Erkenntnis ergänzen so die rein rationell logischen Stufen des Wissens, um anthropologische Dimensionen.

Die Lebenswelten des Menschen werden in der Wirklichkeit des gesamten Daseins umfassender verwurzelt. Es existiert ein Pathos des Logos, der in der Lebenswelt verwurzelt ist. Die reine Evidenz der Vernunft wird durch das Leben der Affektation erweitert.

Dieser Vorgang verweist im Besonderen auf die Forschungen von Warburg zur Psychodynamik der Bilder.

Affektation des kollektiv Imaginären